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Autor: Lukas Buschkühl
In den bisherigen Teilen des Guides wurde immer wieder erwähnt, wie intelligente Trainingsplanung in der Praxis aussieht:
Die intelligente Dosierung deiner Erschöpfung nennt sich Erschöpfungsmanagement und gestaltet sich in der Praxis nicht so subjektiv, wie es sich zunächst anhört. Solange du regelmäßig trainierst steht dir immer ein großer objektiver Faktor zur Einschätzung des aktuellen Ausmaßes deiner Erschöpfung zur Verfügung.
Wenn deine Trainingseinheiten so leicht sind, dass sie die jeweils nächste Trainingseinheit nicht negativ beinflussen, dann erzeugen sie leichte Erschöpfung. Für viele Lifter genügt leichte Erschöpfung bereits, um Fortschritte zu machen. Erst wenn dein Fortschritt bei leichter Erschöpfung dauerhaft stagniert, empfiehlt es sich, die Trainingsbelastung zu erhöhen, um ein moderates Level an Erschöpfung zu erzeugen.
Wenn deine Trainingseinheiten so schwer sind, dass sie die jeweils nächste Trainingseinheit kaum oder leicht negativ beeinflussen, dann erzeugen sie moderate Erschöpfung. Solange du nicht dein genetisches Limit erreicht hast, solltest du mit moderater Erschöpfung immer Fortschritte machen können. Falls du von Anfang an mit einer Trainingsbelastung eingestiegen bist, die moderate Erschöpfung erzeugt, lohnt es sich, die Belastung zu verringern, um zu sehen, ob du nicht mit weniger Erschöpfung bessere Fortschritte machen kannst. Wenn du selbst mit einem moderaten Level an Erschöpfung keine Fortschritte machst, liegt das daran, dass du unproduktive Erschöpfung erzeugst. Dazu später mehr.
Wenn deine Trainingseinheiten so schwer sind, dass sie die jeweils nächste Trainingseinheit stark negativ beeinflussen oder diese sogar ganz ausfallen muss, dann erzeugen sie starke Erschöpfung. Diese Art von Training ist nur für Wettkämpfer etwa 4 bis 2 Wochen vor dem Wettkampf sinnvoll. Für langfristige, nachhaltige Fortschritte ist dieses Level an Erschöpfung ungeeignet und ein klarer Indikator für mangelhafte Trainingsplanung.
Die beiden Abbildungen unten zeigen die maximale Bankdrückleistung zweier unterschiedlicher Lifter über eine Zeitspanne von 29 Wochen. Es handelt sich dabei um reale Werte meiner Klienten während der Vorbereitung auf einen Kraftdreikampf.
Lifter A (links) erzeugte durch sein Training meist leichte und teilweise moderate Erschöpfung.
Lifter B (rechts) erzeugte durch sein Training teilweise moderate und teilweise starke Erschöpfung.
An den schwarzen Trendlinien ist deutlich zu erkennen, dass Lifter A über den gesamten Zeitraum der 29 Wochen betrachtet, schnellere Fortschritte machen konnte als Lifter B. Training mit zu hoher Belastung führt zu starker Erschöpfung. Starke Erschöpfung führt per Definition zu Trainingsausfall durch Ausbrennen und somit zu Zwangspausen. Einer der Hauptgründe dafür ist, dass sich ein hohes Level an Erschöpfung negativ auf die Funktion des Immunsystems auswirkt. [1]
Ich kann mich als Coach darauf verlassen, dass diejenigen unter meinen Liftern, die sich nicht davon abhalten lassen, immer wieder in zu hohe Trainingsbelastung abzurutschen, mindestens drei Mal pro Halbjahr krank werden. Wenn das Timing besonders schlecht ist, muss der Lifter seinen nächsten Wettkampf absagen, weil er es übertrieben hat.
Das auf und ab zwischen zu hoher Erschöpfung und Zwangspausen ist nicht nur körperlich sondern gerade mental sehr belastend und frustrierend. Ausgerechnet diejenigen, die zu schnell und zu viel wollen, machen die langsamsten Fortschritte. Erfahrungsgemäß geben viele dieser Lifter den Sport nach wenigen Jahren wieder auf, da sie den Stress, den sie sich selbst verursachen, mental und körperlich nicht mehr aushalten. Das ist unglaublich ärgerlich, da sie mit weniger Stress mehr erreichen könnten.
Es gibt viele Wege, Erschöpfung messbar zu machen. Die meisten davon sind unnötig kompliziert. Die Studienlage zeigt, dass es nicht nur nicht hilft, die Messung und Dokumentation unnötig kompliziert zu machen, sondern die Zuverlässigkeit der Messung sogar verringert. [2]
Vergiss Hormonmessungen und Pulsvariationsmessungen. Die Selbstauskunft des Lifters über seinen gefühlten Grad an Erschöpfung und seine tatsächlich abrufbare Leistungsfähigkeit im Training sind unkomplizierte und zuverlässige Indikatoren. [1] Der Hauptgrund dafür, dass komplexere Messverfahren in Untersuchungen und in der Praxis so schlecht abschneiden, ist, dass selbst die Kombination mehrerer Messverfahren immer nur einen kleinen Teil des Phänomens abbilden können, das wir unter dem Begriff 'körperliche und mentale Erschöpfung' fassen.
In meiner Berufspraxis hat sich das Ampelsystem bewährt, da es einfach zu handhaben ist und seinen Zweck, Erschöpfung messbar und dokumentierbar zu machen, erfüllt. Im Trainingstagebuch sieht das folgendermaßen aus:
Dieser Trainingsplan zeigt fünf Trainingseinheiten. Geplant waren eigentlich jeweils drei Trainingseinheiten (1, 2 und 3) über zwei Kalenderwochen (KW 1 und 2). In der ersten Einheit der ersten Woche wurde Kniebeuge, mit drei Sätzen (S) von jeweils fünf Wiederholungen (WH) und einem Gewicht von 80 kg (GW) trainiert. Die Zeile (T) lassen wir in diesem Teil des Guides noch außen vor.
Die allermeisten Lifter dokumentieren in ihrem Trainingstagebuch Sätze, Wiederholungen und Gewicht aber so gut wie niemand dokumentiert den Faktor, auf den es für langfristigen Trainingserfolg wirklich ankommt: Erschöpfung.
Die Anzahl an Sätzen mit ihren jeweiligen Wiederholungen und ihrem Gewicht, die du pro Woche trainierst, sind kein Selbstzweck sondern nicht mehr als Mittel zum Zweck, die Dosis an Erschöpfung zu erzeugen, die notwendig ist, um die nächsen Anpassungen deines Körpers zu erzwingen. Deswegen führt kein Weg daran vorbei, deine Erschöpfung messbar und dokumentierbar zu machen.
Dein Erschöpfungslevel, in der Zeile unter den Übungen, wird grün, gelb oder rot markiert.
GRÜN: Das nächste Workout wurde nicht beeinträchtigt.
GELB: Das nächste Workout wurde leicht beeinträchtigt.
ROT: Das nächste Workout musste teilweise oder ganz ausfallen.
Das heißt, dass du die Farbmarkierung für eine Trainingseinheit nicht direkt im Anschluss an die Einheit selbst setzt, sondern erst nach der nächsten Trainingseinheit. Denn selbst wenn du dich nach einer Trainingseinheit noch gut und positiv erschöpft fühlst, kann es sein, dass die Belastung so hoch war, dass du dich nicht rechtzeitig zur nächsten Einheit davon erholen kannst. Dein Gefühl kann ein erster Indikator sein, aber die letztendliche Klarheit gibt erst deine Leistungsfähigkeit in der nächsten Einheit.
Im oberen Beispiel lief die erste Trainingswoche gut. Die Gewichte konnten mit geringer Erschöpfung gesteigert werden. Gegen Ende der Woche hin läuft die Erschöpfung aus dem Ruder. Eventuell wurden die Trainingsgewichte zu schnell erhöht, da das Level an Erschöpfung ansteigt, obwohl sich nichts am Volumen (Anzahl der Sätze) und der Intensität (Anzahl der Wiederholungen) geändert hat.
Während für manche Lifter, die schon sehr lange trainieren, moderate Erschöpfung notwendig sein kann, um weitere Fortschritte zu machen, ist sie in diesem Beispiel von Nachteil, da der Lifter in der nahen Vergangenheit bewiesen hat, dass er schon mit geringer Erschöpfung gute Fortschritte machen kann. Die Erschöpfung steigt im Beispiel weiter an, die Gewichte müssen verringert werden und schließlich muss eine ganze Einheit ausfallen.
Wer sich schon einmal in ein Erschöpfungsloch gegraben hat weiß, dass man dort nicht ohne Zeitaufwand wieder herauskommt. Je tiefer das Erschöpfungsloch, desto länger die notwendige Erholungsphase. Aus gelb kann so trotz verringerter Gewichte schnell rot werden. Weshalb das so ist wird in den späteren Teilen des Guides erläutert, wenn wir uns genauer mit der Zeile (T) im Trainingstagebuch beschäftigen.
Gutes Erschöpfungsmanagement heißt, die Trainingsbelastung auf ein Niveau zu dosieren, dass gerade eben für die nächste Anpassung reicht. Nicht nur unter dieser Dosierung bleiben sorgt für Stagnation, auch wenn du darüber liegst behinderst du deinen Fortschritt. Ersichtlich wird das am Beispiel der Hautbräunung. Bräunung funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie Training.
Die Sonneneinstrahlung stellt eine Belastung für deine Haut dar. Wenn du nur ein paar Minuten in der Sonne bist, passiert so gut wie nichts. Wenn du zwanzig Minuten in der Sonne verbringst und das für dich ungewohnt ist, passt sich deine Haut an, sie wird dunkler und damit widerstandsfähiger gegenüber der nächsten Belastung in Form von Sonneneinstrahlung. Wenn du deinen schneeweißen Körper für mehrere Stunden in die Mittagssonne legst, verbringst du die nächste Woche gezwungenermaßen im Schatten.
Ziemlich genau das passiert, wenn ein Einsteiger zum ersten Mal ins Gym geht. Ein Körper, der kaum widerstandsfähig gegenüber Trainingsbelastung ist, wird zwei Stunden lang mit zehn verschiedenen Übungen konfrontiert. Der Einsteiger kann danach vier Tage keine Treppen mehr gehen.
Zu viel Erschöpfung führt nicht zu den gewünschten Anpassungen. Deine Haut wird durch starken Sonnenbrand nicht braun, sie blättert ab. Wenn du nach einer Trainingseinheit starken Muskelkater hast, ist dein Körper hauptsächlich mit dem Wiederaufbau des zerstörten Gewebes beschäftigt und hat kaum Kapazitäten für eine Anpassung hin zu mehr Widerstandsfähigkeit übrig. [3, 4, 5]
Nichts ist ärgerlicher als durch zu viel Anstrengung auf der Stelle zu treten und darüber hinaus auch noch Schmerzen leiden zu müssen.
Wie häufig du deine Muskelgruppen trainierst oder wie häufig du eine bestimmte Bewegung wie die Kniebeuge ausführst, beeinflusst die Farbmarkierung. Wenn du beispielsweise, wie die meisten professionellen olympische Gewichtheber, mindestens sechs mal die Woche deinen gesamten Körper trainierst, dürfen die einzelnen Einheiten nur sehr wenig Erschöpfung erzeugen.
Wenn du am Montag Kniebeugen machst und am Dienstag wieder Kniebeugen machen willst, ohne dass diese durch das Training am vorigen Tag negativ beeinflusst werden, dann kannst du am Montag nicht so hart trainieren, wie du kannst, sondern musst einige Reserven im Tank lassen. Du hast mit dieser Trainingsfrequenz nur 24 Stunden für die Erholung. Wenn das Training so hart war, dass du länger brauchst, was nicht unglaublich hart ist, dann bist du bereits im gelben Bereich.
Wenn du hingegen nur ein Mal die Woche Kniebeugen machst, dann kannst du so hart trainieren, dass die nächsten Kniebeugen noch bis zu sechs Tage später negativ beeinflusst wären. Erst am siebten Tag, wenn du tatsächlich wieder beugst, musst du erholt sein. Selbst, wenn du 144 Stunden für die Erholung brauchst, wärst du immer noch im grünen Bereich.
Welche Frequenz den meisten Trainingserfolg liefert, wird in Teil 5 des Guides genau erläutert.
Wir konzentrieren uns im Training gern auf die unwichtigen Details. Die Aspekte, auf die es wirklich ankommt, sind im Vergleich zu den unwichtigen Details schwer in die Tat umzusetzen. Der einzige Haken ist, dass dich die unwichtigen Details nicht weiterbringen und du mit ihnen nur deine Zeit verschwendest. In Magazinen und Foren wird endlos über den perfekten Split, Pausenzeiten, Wiederholungstempo und die Auswahl der Assistenzübungen diskutiert. Von den für langfristigen Trainingserfolg wichtigsten Faktoren liest und hört man hingegen so gut wie nie etwas:
Du hörst davon so gut wie nie, weil niemand hören will, dass er sich im Training mehr anstrengen muss und mehr trainieren muss, um an sein Ziel zu kommen. Es ist viel einfacher, geheime Tricks zu verkaufen, die dir auf magische Weise mehr Erfolg für die gleiche Menge an Aufwand bringen sollen. Selbstverständlich funktioniert keiner dieser geheimen Tricks.
Wenn du stagnierst, ohne ständig stark erschöpft zu sein, dann gibt es dafür nur einen einzigen Grund: Zu wenig Erschöpfung. Zu wenig Erschöpfung entsteht wiederum nur aus einem einzigen Faktor: Du trainierst nicht genug. Das heißt, du machst nicht genügend effektive Sätze pro Woche, um das für die nächste Anpassung erforderliche Maß an Erschöpfung zu generieren. Dafür gibt es zwei mögliche Gründe.
Daneben gibt es noch einen dritten möglichen Grund für Stagnation. Eine Falle, in die viele ambitionierte Lifter tappen, sobald sie mit ihrem Einsteigerprogramm stagnieren.
Rufen wir noch einmal den ersten Grundsatz aus dem ersten Abschnitt in Erinnerung:
Bisher haben wir uns nur mit dem ersten Teil dieses Satzes beschäftigt: Das Ziel ist, Erschöpfung zu erzeugen, die hoch genug aber nicht zu hoch ist. Dieses Ziel ist aber nur in Verbindung mit dem zweiten Teil des Satzes sinnvoll:
Produktive Erschöpfung ist diejenige Erschöpfung, die genau diejenigen Anpassungen erzwingt, die dich näher an deine persönliche Ziele bringen.
Hier werden die einzelnen Stellschrauben der Belastungssteuerung interessant: Trainierst du in dem für deine Ziele am besten geeigneten Wiederholungsbereich? Ist das Level an Anstrengung mit dem du deine Sätze ausführst, für deine Ziele geeignet? Bietet dein Training genug Variation, um all die Fähigkeiten auszubilden, die du für deine Ziele brauchst?
Nicht jede Belastung führt dich an dein Ziel. Wenn du nach einem Autounfall im Krankenhaus aufwachst wirst du dich mit Sicherheit erschöpft fühlen. Ein Autounfall ist eine erhebliche Belastung für deinen gesamten Körper. Du wirst infolge dieser Belastung aber weder stärker, noch baust du Muskulatur auf und ganz bestimmt siehst du nach einem Autounfall nicht attraktiver aus.
Wenn dein Ziel größere Armmuskulatur ist und du im Training ausschließlich deine Beine belastest, erzeugst du unproduktive Erschöpfung. Auch das leuchtet intuitiv ein.
Im Detail wird es wesentlich komplexer. Deshalb erzeugen die meisten Einsteiger am Ende ihrer Einsteigerprogramme große Mengen unproduktiver Erschöpfung. Wenn du schon einmal in diese Falle getappt bist wirst du dich daran erinnern, dass du ständig so richtig kaputt und unkonzentriert warst, viel mehr Schlaf brauchtest als sonst, zum Teil sogar Gelenkschmerzen hattest und trotzdem kein Stück mehr vorankamst.
Ich will in diesem Teil des Guides noch nicht tiefer in die einzelnen Stellschrauben einsteigen, daher nur so viel: Der Grund dafür ist, dass Einsteigerprogramme empfehlen, die Trainingsgewichte in pauschal festgelegten Zeitabständen zu erhöhen, beispielsweise 2,5 kg pro Trainingseinheit oder Woche. Sobald du diese Erhöhung nicht mehr schaffst wird empfohlen, dass du von fünf Wiederholungen auf drei Wiederholungen verringerst, um wieder mehr Gewicht aufladen zu können.
Wenn du ausschließlich Sätze mit drei bis fünf Wiederholungen (hohe Intensität) bis zum Muskelversagen (hohe Anstrengung) machst, wirst du ab einem gewissen Punkt deiner Trainingskarriere zwangsläufig stagnieren.
Wer ausschließlich mit hoher Intensität und sehr hoher Anstrengung trainiert, wird ein nur sehr geringes Volumen trainieren können. Trainingsvolumen ist aber die Hauptstellschraube für Muskelwachstum. Ich erlebe es immer wieder, dass Klienten zu mir kommen, die sich wundern, dass ihr Bankdrücken nicht stärker wird und ihre Brustmuskulatur nicht wächst, obwohl ihr Bankdrücken extrem anstrengen ist. Bei der Analyse des Trainingsplans kommt dann heraus, dass der Lifter pro Woche gerade einmal fünf Sätze Bankdrücken macht. Ein so geringes Trainingsvolumen kann auf lange Sicht nur ein geringes Maß an Muskulatur aufbauen. Das gilt auch dann, wenn diese fünf Sätze so intensiv und anstrengend sind, dass du ständig schmerzende Ellenbogen hast.
Es ist alles andere als schwer, unproduktive Erschöpfung zu erzeugen. Es reicht völlig aus, ein paar Stellschrauben im Training falsch einzustellen, um trotz starker Erschöpfung ineffektiv zu trainieren. Deshalb klären die restlichen Teile des Guides die Frage: Welche Stellschrauben haben welchen Effekt auf die Erzeugung produktiver Erschöpfung?
Da ich diese Kritik häufig höre und weil 'Training nach Gefühl' in Teil 7 des Guides noch größere Bedeutung erhalten wird, möchte ich schon an dieser Stelle darauf eingehen.
Was spricht für Trainingssteuerung nach gefühlter Erschöpfung?
Was spricht gegen Trainingssteuerung nach gefühlter Erschöpfung?
Ich kann die Kritik an der Trainingssteuerung anhand subjektiver Kriterien gut verstehen, da ich dieses System zunächst selbst viele Jahre lang intuitiv abgelehnt habe. Schließlich probierte ich das System aus, weil mir klar wurde, dass ich anders nicht mehr weiterkommen würde. Vor der Umstellung hatte ich mich immer und immer wieder durch zu viel Belastung in Phasen zu starker Erschöpfung gegraben, aus denen ich nur mit Hilfe längerer Deloads wieder hinauskam, während meine Leistung stagnierte.
Wenn du jetzt erwartest, dass ich begeistert davon erzähle, wie mir das System sofort die Lösung für meine Probleme im Training lieferte und ich wieder Fortschritte machte: Das war überhaupt nicht der Fall. Selbst nach einem halben Jahr funktionierte das System für mich überhaupt nicht. Trainingssteuerung nach Erschöpfung weist ein entscheidendes Manko auf:
Diejenigen, die am meisten von Trainingssteuerung anhand von gefühlter Erschöpfung profitieren könnten, würden eben genau deshalb so sehr davon profitieren, weil sie in der Praxis schlecht darin sind.
Diejenigen, die Angst haben vor zu schweren Gewichten und Übertraining, neigen dazu, auch sehr leichte Trainingseinheiten gelb, statt grün, zu markieren, während diejenigen, die sich ständig in die nächste Zwangspause trainieren, viel zu schwere Einheiten noch als grün markieren wollen.
Wenn du zu einer diesen beiden Gruppen gehörst ist es für dich entscheidend, dass du dich immer wieder an deiner tatsächlichen Leistung im Training orientierst:
Für mich persönlich brachte damals erst die Zusammenarbeit mit einem Coach den Durchbruch, der mir klar und deutlich vermittelte, dass meine eigene Einschätzung bezüglich meiner Erschöpfung und des Härtegrads meiner Trainingseinheiten völlig unrealistisch waren. Bis ich diese Fähigkeit Schritt für Schritt erlernt hatte und praktisch anwenden konnte, dauerte es, dank meines Dickkopfes, fast ein ganzes Jahr.
Aus meiner Arbeit mit meinen Klienten kann ich berichten, dass die Grundtendenz eines Lifters nie ganz verschwindet. Wer von Natur aus übermütig ist wird immer mal wieder zu hart trainieren und einen Deload brauchen und wer von Natur aus eher ängstlich ist wird immer mal wieder zu lange damit warten, die Gewichte oder das Trainingsvolumen zu erhöhen. Den Unterschied macht, ob dir deine Neigung und das Ausmaß deiner Neigung bewusst ist und du gelernt hast, die Zeichen früh zu erkennen und gegenzusteuern, oder ob du immer noch denkst, dass du alles zu 100% richtig machst.
Wer die Zeichen früh erkennt, verliert, sobald sich seine Neigung mal wieder durchsetzt, nur ein oder zwei Wochen. Wer die Zeichen zu spät erkennt, kann gut und gerne mehrere Monate verlieren. Wer überzeugt ist, dass er alles richtig macht und es gar keine Zeichen gibt, wird bis zum Tag seiner Einsicht stagnieren.
Grundsätzlich kann sich jeder seines Persönlichkeitstyps bewusst werden und lernen, die eigene Erschöpfung langfristig zuverlässig einzuschätzen. Ob dafür die Unterstützung eines Coachs notwendig ist oder nicht, hängt vom Einzelfall ab. Wer die Fähigkeit der zuverlässigen Selbsteinschätzung einmal erlangt hat, muss nur noch die Stellschrauben der Trainingsplanung kennen, mit Hilfe derer er genau die Dosis an produktiver Erschöpfung generiert, die er braucht.
Erschöpfung entsteht nicht nur aus deiner Belastung im Training, sondern (a) aus allen körperlichen und mentalen Belastungen, denen du in deinem Leben ausgesetzt bist, (b) abzüglich deines jeweiligen Widerstands gegenüber der spezifischen Belastung.
Im Abschnitt zum Thema produktive Erschöpfung vs unproduktive Erschöpfung habe ich das Beispiel des Autounfalls gebracht. Da du hoffentlich nicht regelmäßig Autounfällen ausgesetzt bist, orientieren wir uns an alltäglicheren Beispielen wie Stress auf der Arbeit, zu wenig Schlaf, Beziehungsproblemen, oder dem Umzug in eine andere Stadt. Grundsätzlich nehmen viele unterschiedliche Faktoren Einfluss auf deinen Grad an Erschöpfung.
Wie sehr die jeweiligen Faktoren dich persönlich erschöpfen, hängt von deinem Belastungswiderstand ab. Manche Menschen haben überhaupt kein Problem mit Lärm und können direkt neben einer Baustelle schlafen, während andere Menschen sehr darunter leiden und chronische Beschwerden bekommen. Das Gleiche gilt im übrigen auch für Trainingsbelastung, dazu mehr im nächsten Abschnitt.
Wie dein aktuelles Leben um dein Training herum aussieht hat selbstverständlich immer einen erheblichen Einfluss auf dein Training und auf die Farbmarkierung. Zwei exakt gleiche Trainingseinheiten (A und B) innerhalb von zwei aufeinanderfolgenden Wochen erzeugen in beiden Fällen die gleiche Menge an Belastung. Ob diese Belastung aber leichte, moderate oder starke Erschöpfung erzeugt, hängt davon ab, wie viel Belastung neben deinem Training von links und rechts auf dich einprasselt. Deine Trainingbelastung wird zu der aus deinem alltäglichen Leben resultierenden Belastung um dein Training herum addiert.
Wenn du für Trainingseinheit A ausgeschlafen und gut gelaunt warst, weil du gerade beruflich befördert wurdest, während du in der Woche danach, für Trainingseinheit B, nur fünf Stunden geschlafen hast, weil dein Ehemann mit deiner besten Freundin durchgebrannt ist, dann kann Einheit B rot markiert sein, obwohl die exakt gleiche Einheit A aus der letzten Woche in deinem Plan noch grün markiert wurde.
Solche Fälle werden gern als Kritik am System der Trainingssteuerung nach Erschöpfung benutzt, dabei bestätigen sie gerade die Nützlichkeit dieses Systems. Wenn die Belastung in deinem Alltag phasenweise stark ansteigt, dann muss die Belastung im Training sinken, damit du dich nicht in ein Erschöpfungsloch gräbst. Das gilt auch andersrum: Wenn zur Zeit in deinem Leben alles super läuft und du jede Menge Energie hast, kannst du die Trainingsbelastung erhöhen und etwas schnellere Fortschritte machen, ohne auszubrennen. Nur wer seine Erschöpfung misst und dokumentiert kann in diesen Phasen adäquat reagieren und langfristig zielführende Entscheidungen treffen.
Dieses Prinzip gilt sowohl für lange Belastungsphasen wie Arbeitsprojekte als auch für Tagesevents. Wenn du Montags, Mittwochs und Samstags trainierst und am Freitag Abend regelmäßig mit Freunden ausgehst, um deutlich mehr als ein bis zwei Liter Bier zu trinken, dann solltest du die Trainingseinheiten an Samstagen nach feuchtfröhlichen Freitagabenden lockerer gestalten als deine anderen Trainingseinheiten.
Die in der Trainingsrealität am häufigsten vorkommende Abwechslung unterschiedlicher Phasen körperlicher Belastungsfähigkeit ist der weibliche Zyklus. Wenn du als Frau seit einiger Zeit trainierst und nicht mit der Pille verhütest, wird dir aufgefallen sein, dass du in der Woche um den Eisprung herum deutlich leistungsfähiger und belastbarer bist als während der Prämenstrual- und Menstruationsphase.
Intelligentes Erschöpfungsmanagement bedeutet eben nicht, gegen schlechte Phasen anzukämpfen, sondern sich zurückzunehmen, um in den guten Phasen effektiv angreifen zu können.
Je nachdem, wie stark dein Zyklus dich beeinflusst, kann das in manchen Fällen sogar bedeuten, dass es sich lohnt, in der Woche um den Eisprung herum 4-5 Einheiten pro Woche zu trainieren und dafür in den schwächsten Phasen auf 1-2 Einheiten pro Woche zu reduzieren. Die für dich in den jeweiligen Phasen passende Belastung zu finden ist genau das Ziel der Trainingssteuerung nach Erschöpfungsgrad und entweder die Aufgabe deines Coaches oder deine Aufgabe, wenn du dich selbst coachst.
Ich will an dieser Stelle noch nicht tiefer in die Details der einzelnen Stellschrauben der Belastungsdosierung eintauchen, aber zur Verdeutlichung der genetischen Unterschiede zwischen einzelnen Athleten ein Beispiel aus der Realität nennen:
Manche Lifter müssen sich nach einem Satz Kniebeuge mit 20 Wiederholungen bei 80 kg fast übergeben und kommen dafür mit 3 Wiederholungen bei 200 kg wunderbar klar. Andere Lifter fühlen sich nach Sätzen mit 20 Wiederholungen frisch, während sie nach einer Trainingseinheit 3er Sätze zwei Stunden zusätzlichen Schlaf benötigen.
So wie manche von uns mit dem Potential zum Marathonläufer und andere mit dem Potential zum Strongman geboren wurden, liegt manchen von uns Marathontraining eher als Strongmantraining. Wo genau auf dem Spektrum der unterschiedlichen Reaktionen auf die gleiche Belastung du liegst, findest du nur heraus, wenn du deine Erschöpfung misst und dokumentierst.
Welche Trainingseinheiten erschöpfen dich am meisten? Körperlich oder mental, oder beides? Woran liegt das? Um das herauszufinden, kannst du nach und nach einzelne Stellschrauben isoliert verändern und die Effekte beobachten:
Alle folgenden Teile des Guides beschäftigen sich vertieft mit den einzelnen Stellschrauben der Belastungssteuerung und ihrem Einfluss auf die Erschöpfung. Dabei kann ich immer nur Empfehlungen geben, die sich für die meisten Menschen in den meisten Fällen aus der aktuellen Studienlage ergeben. In jeder großangelegten Studie gibt es Ausreißer, also Menschen, die völlig anders reagieren als die Norm. Genau deswegen empfehle ich eben keine starren Guides aus dem Internet, sondern intelligentes Erschöpfungsmanagement und Trainingsdokumentation.
Deshalb beginnt dieser Guide nicht direkt mit den Stellschrauben der Belastungssteuerung, sondern mit den Grundprinzipien des Erschöpfungsmanagements. Ich hoffe, dass ich dir so die Werkzeuge an die Hand geben konnte, mit Hilfe derer du für dich selbst herausfinden kannst, was für dich funktioniert und was nicht. Nur mit diesen Werkzeugen kannst du dich langfristig effektiv selbst coachen und endlich damit aufhören, nach dem perfekten Trainingsplan von der Stange zu suchen.
[1] Hackney et al., The immune system and overtraining in athletes: clinical implications. Acta Clin Croat. 2012 Dec;51(4):633-41.
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[2] Saw et al., Monitoring the athlete training response: subjective self-reported measures trump commonly used objective measures: a systematic review. British Journal of Sports Medicine 2016;50:281-291.
https://bjsm.bmj.com/content/50/5/281
[3] Sikorski et al., Changes in perceived recovery status scale following high-volume muscle damaging resistance exercise. J Strength Cond Res. 2013 Aug;27(8):2079-85.
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[5] Proske et al., Muscle damage from eccentric exercise: mechanism, mechanical signs, adaptation and clinical applications. J Physiol. 2001 Dec 1;537(Pt 2):333-45.
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[15] Barbosa-Netto et al., Self-Selected Resistance Exercise Load: Implications for Research and Prescription. J Strength Cond Res, 2017.